Sergi Pàmies

Sergi Pàmies wurde 1960 in Paris geboren und kam 1971 nach Barcelona. Der ehemalige Fußballspieler und Buchhalter ist Mitarbeiter bei zahlreichen Feuilletons und Literaturzeitschriften. Daneben arbeitet er als Übersetzer.

Taxidermie* (von Sergi Pámies)

1 – Das Erste, was mir auffiel, als ich in Barcelona ankam, war die Farbe der Taxis. Oder besser gesagt: die Farben der Taxis, Gelb und Schwarz. Hätte ich nicht erwartet. Man hatte mir gesagt, Barcelona sei eine große Stadt mit Meer und Bergen, Vergnügungspark, Seilbahn, Zoo, Wachsfigurenkabinett…

Man hatte mir Fotos gezeigt von der Sagrada Familia (eine Art Kirche aus Tonerde), von der Rambla, vom Camp Nou, vom Güell-Park und einer Clique von Verwandten, die ich noch nie gesehen hatte. Aber keiner hatte mir etwas von der Farbe der Taxis erzählt. Aus Filmen wusste ich, dass sie in New York gelb sind, in London schwarz, und dass sie in Paris die Farbe haben, wonach ihnen gerade der Sinn steht. Seitdem bin ich ein Taxi-Abhängiger. Ich muss dazu sagen – denn diese Sachen müssen gesagt werden -, dass ich nichts dagegen unternehme. Im Gegenteil. Es handelt sich nicht um eine krankhafte körperliche Abhängigkeit, aber ich muss gestehen, dass es sich dabei doch um eine krankhafte körperliche Abhängigkeit handelt. Ich hab‘ Taxis genommen, um zur Schule zu fahren, von der Arbeit zurück, um nachts auszugehen, ohne Grund, einfach aus Spaß, eins anzuhalten, einzusteigen, mich mit dem Taxifahrer zu unterhalten, während am Fenster die Stadt an mir vorbeizieht. Oft habe ich extrem kurze Touren gemacht (eine, zwei, drei, vier Straßen), und die Fahrer haben mich aus dem Augenwinkel oder im Rückspiegel (der Augenwinkel des Taxifahrers) beobachtet, als wollten sie meine unheilbringende Haltung kritisieren. Um Gewissensbisse zu vermeiden und um mir diese visuelle Kritik zu ersparen, stelle ich mich bei kurzen Touren lahm: Ich gehe einige Meter, als hätt` ich ein Holzbein, und halte das Taxi ohne Komplexe an. Wenn der Taxifahrer fürchterlich neugierig ist – und normalerweise ist es so -, fragt er mich, ob ich mein Leiden seit der Geburt oder aufgrund eines Unfalls habe. Bei der Antwort lüge ich. Immer. Manchmal gebe ich mich als Ex-Champion aus, Opfer eines spektakulären Sturzes (das Motorrad geht vorne hoch, zieht aus der Kurve und macht einen Salto mortale, keine Chance); oder als Arbeiter vom Schlachthof, dem eine Kuh aufs Knie gefallen ist; als Trapezkünstler, der eine noch nie da gewesene Nummer versucht hat, ohne Netz und doppelten Boden. Die Reaktion des Taxifahrers ist immer dieselbe: Ich kenne eine Unzahl Ex-Rennfahrer, eine Menge verunglückter Arbeiter vom Schlachthof, Hunderte von lebensmüden Trapezkünstlern… Denn eine unverzichtbare Bedingung, in Barcelona Taxifahrer zu sein, besteht darin, alles zu wissen, Und wenn ich sage: alles, dann meine ich auch alles.

2 –  Im Poble Nou. Er weiß nicht, wie er dort hingelangt ist, aber er hat das Gefühl, dass er nicht dort sein sollte. Es ist spät. Selbst der Mond ist kurz davor einzupacken. In den Asphalt treten, mit Entschlosseinheit, als wollte er sich dort einkeilen. Dennoch kann er nicht verhindern, dass sich alles dreht. Linien, fliehende und unterbrochene; Ampeln; Laternen; Werbeplakate mit dem Lächeln eines Martini-Mädchens; Papierkörbe. Er wird ohnmächtig. Ein Aufzug voller Alkohol steigt ihm die Kehle hoch: Drinks, Tabak, Gespräche, gute Vorsätze, zeitig schlafen zu gehen, wo man doch bereits vergessen hat, was "zeitig" bedeutet. "Kann sein, dass es so ist wie Niemals-den-Zug-verpassen, denkt er, während er sich umdreht, um zu raten, wo es lang geht, um nach Hause zu finden. Rechts Santa Coloma de Gramanet. Links Barcelona. Und umgekehrt. Schwestern, siamesische Zwillinge.

Ein Fahrzeug nähert sich. Es ist ein Taxi. Er weiß, warum das kleine grüne Lämpchen leuchtet. Der Fahrer hält ihm die Tür auf. Er steigt ein. Der Kopf ist ihm so schwer wie die Zunge. Er kriegt kein Wort raus. Nicht, dass es ihm schwer fiele, er kann einfach nicht. Genauso wenig wie er Tennis spielen kann oder sparen. Der Taxifahrer beobachtet ihn im Rückspiegel. Er wartet darauf, dass ihm gesagt wird, wo er hinzufahren habe. Aber er schweigt diskret. Das Radio wiederholt das unmögliche Zeitzeichen: neunundzwanzig Uhr und dreiundachtzig Minuten, oder so. Gegen die Scheibe zurückgelehnt, dicht beim Aufkleber Die Türe leise schließen, danke versucht er, den Mund zu öffnen. Unmöglich. Er denkt, dem Taxifahrer könnte es jeden Moment zu viel werden, einen Kadaver zu befördern. Er muss irgend etwas tun. Mit Mühe zieht er die Brieftasche heraus. Er freut sich, dass er sie dort findet, wo er sie hingesteckt hatte. In der Innentasche seiner Jacke. Er zieht seinen Personalausweis heraus und betrachtet ihn. Sein Name gefällt ihm nicht. Das Bild ist nichtssagend und es fällt ihm schwer zu glauben, dass er dieses schlechtrasierte Individuum sein soll. Er gibt dem Fahrer den Ausweis und schließt die Augen, ausgelaugt.

3 – Anhand einer jüngst veröffentlichten Statistik vergewissert er sich, dass es in Barcelona mehr als achtzehntausend Taxis gibt. Das ist gelogen. Und jeder weiß es. Wenn es regnet, gibt es nur fünfzig und alle sind sie besetzt. Zu Weihnachten dagegen, wenn sich die Leute vor den großen Kaufhäusern tummeln, um das Weihnachtsgeld auf den Kopf zu hauen, gibt es Millionen, eines nach dem anderen, wie Raben, die geduldig auf das nötige Chaos warten, mit geöffneten Türen, die unendliche Gemütlichkeit eines bezogenen Sitzes anbietend.

4 –  Ich hab‘ mich verkleidet, als Tourist: Sonnenbrille, rotes Hemd, Fotoapparat, Stadtplan, und dein Gesicht ein Lächeln aufgesetzt. Ich verließ das Haus und ging bis zur Placa Catalunya. Während ich runterging, dachte ich, mich als Deutscher, als  Engländer, als Schweizer, als Italiener auszugeben, aber keine dieser Nationalitäten überzeugte mich. Ich würde dabei das Risiko eingehen, dass der Taxifahrer mehr wüsste als ich und der Schwindel auffliegt. Schließlich entschied ich mich für den Australier. Vor dem Cafe Zürich hielt ich ein Taxi an. Und stieg mit einem Gesicht ein, als sei ich, von einem anderen Planeten kommend, grad gelandet. Die Augen des Taxifahrers öffneten sich vor unendlicher Freude: ein Tourist, ein Opfer. Mit übertrieben britischem Akzent bat ich ihn, mir die Stadt zu zeigen. Ohne groß nachzudenken, schaltete er das Tachometer an. Er wollte wissen, woher ich käme. Aus Australien. Einige Sekunden lang zweifelte er (solange wie ein Taxifahrer eben braucht, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er weiß, was er nie gewusst hat) und dann sagte er: Känguru, Bumerang, Krokodil. Er war zufrieden. Eine alte Dame mit schriller Stimme, Regenschirm und einem unerträglichen Verständnis von Konversation ist schließlich nicht dasselbe wie ein australischer Tourist mit jungfräulicher Bereitschaft, für die sagenhaften Schönheiten der gräflichen Stadt zu zahlen, was nötig ist.

Jeder echte Australier, der diese Fahrt gemacht hätte, wäre mit einer ganz besonderen Version von Barcelona aus dem Fahrzeug gestiegen. So versicherte mir der Taxifahrer, Columbus stamme aus La Guineueta, einem Arbeiterviertel Barcelonas; und es sei nicht wahr, dass Ildefons Cerdá vorgesehen habe, Grünflächen auf der Eixample anzubringen, sondern seine ursprüngliche Idee sei es gewesen, diesen Teil der Stadt so zu bebauen, dass alles in diesem Viertel auf dem Prinzip des Dreiecks beruhen würde – modern, anders -, damit sich die Fahrzeuge der Zukunft (Raketen, horizontale Aufzüge) diagonal hätten fortbewegen können, um Zeit und Kraftstoff zu sparen. dass die Paeila in Barceloneta erfunden worden sei; die Krokette in Guinard die ensaimada in Sants. dass Narcís  Monturiol außer dem U-Boot das Taxometer und die E-Gitarre erfunden habe. dass es in Grácia einen Schauspieler gebe, der auf der Toilette ein Foto von Jessica Lange mit Widmung hängen habe, dass Gaudi nicht, wie es heißt, beim Austricksen der Straßenbahn umgekommen sei, sondern vor Ekel nahe der Kathedrale.

Als ich ihn wegen den Namen einiger Straßen fragte, erzählte er mir eine abgefahrene Geschichte: London sei keine Stadt, sondern ein von einem aus Verneda stammenden Klempner entdeckter Planet. Roger de Llúria sei der Name eines Pferdes, das den Grand Prix gewonnen habe, als es diesen noch gar nicht gab. Trafalgar sei ein Schriftsteller der  Schwarzen Serie; Creu Coberta ein Arzt; Torras i Bages der Erfinder des Spargels mit zwei Spitzen. Als ich ihnen entgegnete, eine andere Version gelesen zu haben, behauptete er, Bücher lügen und die einzigen, die die Stadt kennen, sind die Taxifahrer. Fragte ich ihn, weshalb, antwortete er mir, nur sie wüssten, wo die Minister zu Abend essen, wo die Ballerinas bumsen, wo die Dichter Selbstmord begehen, wo die Gouverneure schlafen. Nur sie würden die Bars kennen, die niemals zumachen; die Krankenschwestern, die achtlos Spritzen verschenken, kostenlos Massagen verabreichen oder Verband rausgeben für Wunden, die durch Stoßwaffen verursacht werden; auch den Preis der einen oder anderen, die Plätze, wo Drogen verkauft werden; oder wo man die beste Aussicht auf den Sonnenaufgang hat.

5 – Es gibt Taxifahrer-Poeten, die einem außer der Fahrt auch Verse verkaufen. Es gibt Taxifahrer mit einer Luftröhren-Operation; man versteht sie nicht, wenn es ans Bezahlen geht. Es gibt stupide Taxifahrer, die während der ganzen Fahrt die Regierung irgendwelcher Sachen bezichtigen. Es gibt stille Taxifahrer, die auch dann nicht reden, wenn du ihnen Gesprächsstoff lieferst. Es gibt Taxifahrer, die Radio hören und lächeln, wenn sie etwas witzig finden, und laut aufmucken, wenn sie mit dem Radiosprecher nicht einverstanden sind. Es gibt Taxifahrer, die zwei Nächte hintereinander fahren und nicht wissen, wo das Bagdad oder das Baticano ist. Es gibt Taxifahrer, denen gefällt es, auf Taxifahrer zu machen, weil’s ein Job ist, bei dem es keine festen Arbeitszeiten gibt und jeder sein eigener Chef ist. Es gibt Taxifahrer, die seit dreißig Jahren auf Taxifahrer machen und nicht verstehen, warum sich die Straßennamen jedes Mal ändern, wenn es einen Regierungswechsel gibt. Wenn es nach ihnen ginge, müsste man den Straßen ewig währende Namen verleihen, zeitlos und unpolitisch; so was wie Blumenstraße, Rolling-Stones-, Hähnchen-am-Spieß-, Milchkaffeestraße …

6 – Eine Reise mit dem Taxi kennt keine Grenzen. Man kann einsteigen, an einem der Tage, an denen man nicht weiß, was man tun soll und durch die Stadt fahren, jahrein, jahraus. Wird der Taxifahrer müde, wechselt man das Fahrzeug, doch die Reise bleibt dieselbe, Eigentlich macht man nur eine Reise; von der ersten bis zur letzten. Es ändert sich die Unterhaltung, auch wenn die Möglichkeit besteht, dass es immer dieselbe Unterhaltung ist. Man kann von der Professionalisierung der Fußballschiedsrichter sprechen; von der Richtungsänderung einer Straße; von den Geldschluckautomaten; Vom Geld, das der Papst verdient; ob die Terroristen hingerichtet, die Schwarzen des Landes verwiesen werden sollen, ob man die Sagrada Familia abreißen lassen soll, ob die Renten einen Monat vor den Wahlen steigen sollen, ob die Blonden schlampiger sind als die Brünetten, ob Gorbatschow an seinem Fleck auf der Stirn sterben wird … Doch die Innenlandschaft ist immer dieselbe: ein Nacken, ein Steuer, ein Blick durch den Rückspiegel; Fotos von Kindern, die den Vater bitten, nicht zu schnell zu fahren; eine Madonna; eine Tür, die sich öffnet. Draußen die Stadt. Straßen, die an jeder Ecke den Namen wechseln (warum nicht eine Stadt mit einer einzigen Straße); ein Nachrichten-Denkmal; Erinnerung; Erinnerungskrusten; Plakate, die die Eröffnung neuer Bars ankündigen; Sand der Parkanlagen; Eisenstangen; synthetische Huldigungen, die aus den Mündern jener quellen, die nicht leben können, ohne Blödsinn zu schreiben wie: Als sie nach Barcelona kamen, war das Erste, worüber sie staunten, die Farbe der Taxis. Oder besser: die Farben der Taxis. Gelb und Schwarz. dass sie das nicht erwartet hätten. dass man ihnen von Barcelona dies oder jenes erzählt habe, wo doch jeder weiß, dass Barcelona eine Stadt ist, in der das Erste, was einem auffällt, wenn man sie über den Wasser-, Land- oder Luftweg erreicht, eine lange Schlange von Fahrzeugen ist. Gelb und Schwarz.

* Taxidermie: die Kunst tote Tiere so auszustopfen, dass sie wie lebend aussehen

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